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Die Brille

Ich bitte um Verzeihung, wenn dies folgende beliebiger als sonst scheint, aus aktuellem Privatanlass und weil es ferne doch mit Büchern zu tun hat, sei es doch an diesem Ort hinparliert.
Immer wenn ich ein Buch lese, brauche ich A) ein Buch und B) meine Brille, wenn mich auch (noch) lediglich Kurzsichtigkeit plagt (habe lange Arme).
Der Umgang mit beidem will gelernt sein. Mit Büchern habe ich so einige Erfahrung. Mit Augengläsern ebengleich - könnte man zumindest meinen. Denn trotz jahrzehntelanger Fehlsicht ist mir der sorgsame Umgang mit dem Scharfmacher noch immer nicht in Fleisch, Blut oder gar Gewohnheit übergegangen. Geputzt wird sie erst bei aufkommenden Nackenbeschwerden, also laut gesellschaftlichen Konventionen viel zu spät. Was sich wohl die Leute denken...
Zur Verteidigung: Trägt man eine Brille ausnahmslos immer von früh bis spät, weil man ohne sie wie aus einem Aquarium in die Welt schaut, bemerkt man die ständige aber graduell
fortschreitende Verneblung nicht - subtil trübt sich der Blick. Schwarze Flecken im Sichtfeld könnten darüber hinaus sehr wohl auch von der Verdunkelung der Seele herrühren, kein seltenes Phänomen. Es dauert also bis sich der leise Gedanke regt, die Brille eventuell mal wieder von all dem Blickfett* zu befreien. Die Umsetzung kann dann durchaus sehr, sehr lange dauern, verbirgt sich doch, wie ich neulich wieder erfahren musste, unter einer Schmutzschicht gleich eine weitere - und so fort. Zeitweilig beschlich mich dabei der sorgenvolle Gedanke, dass unter all den äonenalten Ablagerungen ungeklärter Provenienz (wer will das auch wissen?) vielleicht gar keine Brille mehr zum Vorschein kommt.
Es kam aber anders, glücklicherweise, und Erleichterung, Stolz und vor allem Staunen flutete meine verbliebenen Gehirnregionen: All die satten Farben, Umrisse, so klar als hätte die Wirklichkeit sie selbst geschmiedet, Licht, endlich wieder Licht ... Meine Güte, blendet das, lieber die Vorhänge schließen, an weiß ja nie. Ich lerne langsam wieder sehen.
Da dies alles der Mühen viele bedeutet, muss man danach natürlich die verbleibende Kraft möglichst klug einteilen - eine erneute Reinigung ist also rein aus logistischen Gründen für eine längere Zeit nicht leistbar. Ein Teufelskreis, ich sag es euch.
Es bleibt mir nur, dies anzuprangern und mich einstweilen zu verabschieden. Auf(s) wieder sehen.

*Wenn ich mich nicht irre, zeichnet sich Max Goldt für diesen treffenden Begriff verantwortlich.